Kaum ein Thema wird derzeit so emotional diskutiert wie Künstliche Intelligenz.
Für die einen ist sie das Untergangsszenario für ganze Berufsbilder – vom Anwalt bis zum Investmentbanker. Für die anderen ist sie ein Heilsversprechen, das alle Probleme löst.

Beides greift zu kurz.

Denn AI ist keine Bedrohung, die wir verhindern könnten – genauso wenig wie Internet oder Smartphones aufzuhalten waren. Sie ist eine disruptive Technologie, die das Spielfeld verändert. Und genau darin liegt die Chance: Wer früh versteht, wie AI das Doing ersetzt, kann die eigene Rolle im Denken, Entscheiden und Interpretieren neu definieren.

Die entscheidende Frage lautet also nicht: Kommt AI?
Sondern: Wie gehen wir damit um – und wie sichern wir die Denkfähigkeit der nächsten Generation in Berufen, die traditionell vom Doing gelernt haben?

Was AI im Beratungsumfeld schon heute ersetzt


Routinearbeiten verschwinden. Research, Datenauswertung, Benchmarking, Financial Modeling, Dokumentenanalyse – all das können spezialisierte AI-Systeme inzwischen schneller und oft präziser erledigen.

- Unternehmensberatung: Marktanalysen, SWOT-Tabellen oder Benchmark-Slides, die früher Tage dauerten, entstehen mit AI in Minuten.
- Wirtschaftsprüfung: Standardisierte Abgleiche von Rechnungswesen und Verträgen laufen zunehmend KI-gestützt. Deloitte UK berichtet, dass ihr Chatbot PairD inzwischen von drei Vierteln der Prüfer:innen genutzt wird.
- Steuerberatung: Deklarationen, Buchführung und Reportings werden automatisiert vorbereitet.
- Anwaltschaft: Tools wie Harvey oder Kira Systems prüfen Dokumente, finden Klauseln und liefern erste Argumentationsbausteine.
- Investmentbanking: Goldman Sachs testet AI, die 95 % eines IPO-Prospekts automatisch erstellt – in Minuten statt Wochen.

Das Doing, das klassische „Handwerk“ für Einsteiger:innen, wird damit neu verteilt.

Lernen durch Doing – und warum das verschwindet


Traditionell bauten junge Berater:innen ihre Fähigkeiten durch Wiederholung und Korrektur auf. Wer als Junior endlose Excel-Tabellen erstellte, lernte Logik, Zahlenverständnis und die Bedeutung von Fehlerfreiheit. Wer 200 Seiten Due-Diligence-Berichte querlas, verstand Vertragslogiken, Detailtiefe und den Blick für Ausreißer.

Dieses Lernen im Doing ist jedoch bedroht.

Wenn AI die Routinen übernimmt, fehlt ein zentrales Element: die „Lehrjahre“, in denen Fehler gemacht, verbessert und reflektiert werden. Die Gefahr: Junge Talente wachsen schneller in höhere Rollen – aber ohne das Fundament.

Was stattdessen zählt – Denken lernen im AI-Zeitalter


Genau deshalb verschiebt sich der Fokus: Nicht das Abarbeiten, sondern das Denken wird zur zentralen Kompetenz.

- Kontextverständnis: Daten und Texte interpretieren, nicht nur erzeugen.
- Transferfähigkeit: Erkenntnisse aus einem Kontext in einen anderen übertragen.
- Kritisches Denken: Ergebnisse von AI hinterfragen, statt sie blind zu übernehmen.
- Kommunikation & Verhandlung: AI schreibt keine überzeugenden Gespräche mit Mandanten, Banken oder Aufsichtsräten.

Oder, wie Marco Argenti, CIO von Goldman Sachs, es formuliert:
„The real challenge isn’t just making AI agents smarter – it’s teaching them company culture.“

AI liefert Inhalte. Menschen müssen ihnen Sinn, Bedeutung und kulturelle Einbettung geben.

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Branchen im Fokus: Fünf Beispiele


1. Unternehmensberatung


McKinsey und BCG experimentieren längst mit AI-gestützten Research-Plattformen. Prognosen gehen davon aus, dass bis zu 30 % klassischer Beratungsaufgaben automatisierbar sind. Doch: Die eigentliche Wertschöpfung entsteht in der Synthese – in der Frage, welche Zahlen wirklich relevant sind und wie sie in eine Strategie übersetzt werden.


2. Steuerberatung


Der Berufsstand lebt traditionell von Präzision und Routine. AI kann Buchungen schneller erfassen, Reports generieren und Risiken flaggen. Aber: Der Mandant erwartet zunehmend Trusted Advisors – Berater, die Zahlen deuten, Gestaltungsspielräume aufzeigen und Entscheidungen mittragen. AI schafft dafür Zeit, ersetzt aber nicht das Urteil.


3. Anwaltschaft


Großkanzleien setzen Harvey & Co. längst in der Vertragsprüfung ein. Die Effizienzgewinne sind enorm. Aber kein Mandant verlässt sich allein auf ein AI-Tool. Erwartet wird, dass Anwälte die Ergebnisse interpretieren, in einen Rechtsrahmen einordnen und strategische Empfehlungen geben.


4. Wirtschaftsprüfung


Ein Paradefall für den AI-Einsatz. Deloitte zeigt: Junior:innen, die früher Listen und Abgleiche erstellt haben, analysieren heute Auffälligkeiten. Das verschiebt die Lernkurve: weniger stupide Arbeit, mehr Kontextverständnis. Aber nur, wenn Senior:innen aktiv erklären und begleiten.


5. Investmentbanking


Goldman Sachs-Chef David Solomon machte kürzlich klar: AI kann fast alle Routinen eines IPO-Prozesses übernehmen. Aber die letzten 5 % – Struktur, Timing, Verhandlung – entscheiden über Erfolg oder Misserfolg. Hier zeigt sich: AI ersetzt das Doing, aber Urteilskraft, Erfahrung und Verhandlungsgeschick bleiben menschlich.

Neue Ausbildungslogik für junge Berater:innen


Wenn Doing wegfällt, müssen Organisationen bewusst Lernräume schaffen. Drei Prinzipien:

1. Case-Shadowing: Juniors begleiten Seniors bei echten Projekten – nicht, um zu „machen“, sondern um zu beobachten und zu reflektieren.


2. Simulationen & Stretch-Aufgaben: Realitätsnahe Trainings, die bewusst überfordern und zur Reflexion zwingen.


3. Mentoring & Feedback: Führungskräfte müssen Zeit einplanen, Denkprozesse zu erklären – nicht nur Ergebnisse zu korrigieren.


AI nimmt Routine ab – das ist gut. Aber Lernen muss aktiv ersetzt werden.

Tools: Hilfe oder Gefahr?


Die Tool-Landschaft wächst rasant:

- Harvey für Juristen
- Kira Systems für Vertragsanalyse
- AlphaSense für Markt- und Researchdaten
- ChatGPT Enterprise für unternehmensweite Text- und Datenarbeit

Alle beschleunigen das Doing. Aber die Gefahr besteht: Wer sich nur auf sie verlässt, entwickelt keine Urteilskraft.

ThinkBeyondAi | LinkedIn
ThinkBeyondAi | 3 followers on LinkedIn. thinkbeyondai: Midjourney-Mentalität – kritisch auf AI blicken, Berufe im Wandel verstehen, Zukunft denken. | thinkbeyondai ist eine Plattform für Reflexion, Analyse und Debatte im Zeitalter von Künstlicher Intelligenz. Wir beleuchten, wie AI Berufe, Karrieren und ganze Branchen verändert – von der Anwaltskanzlei über die Unternehmensberatung bis hin zu M&A und Corporate Finance. Kern unseres Ansatzes ist die Midjourney-Mentalität: eine kritische Haltung gegenüber oberflächlicher AI-Nutzung.

Warum ich über AI im Beratungsumfeld schreibe


Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit Sanierung, Restrukturierung und den Kernberufen im Beratungsumfeld. In all diesen Feldern habe ich erlebt, wie entscheidend das Denken ist – nicht nur das Abarbeiten. Mit AI verschiebt sich die Wertschöpfung: Routinen werden automatisiert, aber Urteilsfähigkeit, Erfahrung und Kommunikation bleiben menschlich.

Dabei liegt mir ein Punkt besonders am Herzen: die Ausbildung junger Talente. Früher lernten sie über Doing – über stundenlange Analysen, Tabellen oder Vertragsprüfungen. Genau diese Lehrjahre drohen durch AI zu verschwinden. Wenn wir nicht bewusst neue Lernräume schaffen, riskieren wir eine Generation, die Ergebnisse konsumiert, ohne sie wirklich zu verstehen.

Und das ist mehr als eine Frage der Ausbildung – es ist ein Wettbewerbsfaktor. Wer schneller versteht, wie AI das Doing ersetzt und gleichzeitig seinen Nachwuchs im Denken stärkt, wird im Vorteil sein. Nicht nur im einzelnen Unternehmen, sondern auch für die Resilienz unserer Wirtschaft insgesamt. Denn nur mit kritischen, reflektierten Köpfen können wir komplexe Krisen meistern und Chancen wirklich nutzen.

Fazit: Denken bleibt die ultimative Kompetenz


AI ersetzt das Doing. Das ist keine Bedrohung, sondern eine Chance.

Doch wer glaubt, dass AI auch das Denken übernimmt, irrt. Kritische Reflexion, Kontextverständnis und Urteilskraft sind die Kompetenzen, die über die Zukunft entscheiden – nicht nur im Consulting, sondern in allen professionsnahen Berufen.

Die Verantwortung liegt bei Organisationen und Führungskräften: Sie müssen Lernräume schaffen, in denen junge Talente nicht in eine Midjourney-Mentalität abrutschen – die gefährliche Haltung, AI-Ergebnisse unreflektiert zu übernehmen.

Die eigentliche Frage ist also:
Wie gestalten wir die nächste Generation von Beratern, Juristen, Prüfern und Bankern so, dass sie mit AI arbeiten – aber trotzdem selbst denken?

Über den Autor


Sven von Bismarck ist Berater für Restrukturierung und Transformation. Seit über 20 Jahren begleitet er Unternehmen, Investoren und Führungskräfte in komplexen Krisen- und Veränderungssituationen. Mit vonbismarck x hat er eine Plattform geschaffen, die operative Erfahrung, rechtliche Präzision und strategisches Denken verbindet. Auf thinkbeyondai.com diskutiert er, wie Künstliche Intelligenz die Beratungs- und Finanzwelt verändert – und warum gerade jetzt die Ausbildung junger Talente über Wettbewerbsfähigkeit und Krisenresilienz entscheidet.

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