Was ist ein High Potential von morgen?

Ein Essay über Urteilskraft im KI‑Zeitalter – jenseits von Logos und Lebensläufen
Die Regeln, nach denen wir Talent erkennen, sind ins Rutschen geraten. Wo früher Logo‑Karrieren, Noten und das Beherrschen von Routinen galten, beschleunigt Künstliche Intelligenz die Abarbeitung – und verschiebt den Wert auf etwas anderes: das Denken unter Unsicherheit. Drei von vier Wissensarbeiter:innen setzen bereits KI ein. Das ist kein Randphänomen mehr, sondern Alltag – und ein massiver Selektionsdruck auf unsere alten Maßstäbe.
Was heißt das konkret?
KI nimmt Tempo in jene Zonen, in denen man früher „Handwerk“ lernte: repetitive Recherchen, Standardauswertungen, Zusammenfassungen, Vertrags‑ und Dokumentenchecks. In einer groß angelegten Feldstudie zu einem Support‑Center stieg die Produktivität mit einem generativen KI‑Assistenten im Schnitt um rund 14 Prozent – für Novizen sogar weit über 30 Prozent. Das ist betriebswirtschaftlich attraktiv, hat aber eine zweite Seite: Lernkurven, die traditionell aus Wiederholung und Korrektur bestanden, werden abgekürzt. Die Aufgabe der Ausbildung verschiebt sich – vom Doing hin zum Urteil.
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Die Prüfbranche als Lehrstück
Bei Deloitte UK nutzen rund drei Viertel der Auditor:innen den hauseigenen Assistenten „PairD“ regelmäßig; über ein Jahr kamen mehr als 1,1 Millionen Prompts zusammen. Das spart Zeit – und zwingt die Organisation, die Qualität der Urteile neu zu sichern. Der britische Regulator FRC bescheinigte den großen Prüfgesellschaften jüngst, dass sie zwar KI‑Werkzeuge einsetzen, deren Einfluss auf die Audit‑Qualität aber oft nicht systematisch messen – verbunden mit der Aufforderung, genau das nachzuholen. Produktivität ist da, Messbarkeit muss folgen.
Banking: Kultur in Code übersetzen
Auch im Banking ist die Richtung eindeutig. Goldman Sachs rollte einen generativen Assistenten firmweit aus; absehbar wird damit nicht nur die Arbeit schneller, sondern auch die Frage lauter, wie man Kultur in Maschinenlogik übersetzt. CIO Marco Argenti bringt es trocken auf den Punkt: Nicht die Intelligenz der Agenten sei das Problem, sondern ihre kulturelle Passung. KI als „neuer Kollege“ lernt Fakten schnell – aber nicht automatisch das Wie einer Firma. Das entscheidet darüber, ob Empfehlungen anschlussfähig, verantwortbar und wirksam sind.
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Urteil statt Logo
Wenn Doing beschleunigt, rückt die Urteilsarbeit ins Zentrum. Und damit eine unbequeme Frage: Woran erkennt man heute ein High Potential? Die alte Antwort – an Stationen, Noten, Logos – war nie perfekt, aber funktional. Morgen zählt, wer Wirkung unter Unsicherheit erzeugt: mit Kontext, Modellen, Datenkritik, klarer Sprache, Integrität und Lernfähigkeit. Der Kompass des World Economic Forum zeigt dieselbe Richtung: analytisches und kreatives Denken sowie KI‑Kompetenzen stehen bis 2027 ganz oben.
Wie gute Leute heute arbeiten
Es klingt abstrakt – bis man beobachtet, wie gute Leute heute arbeiten. Sie beginnen mit Kontext, nicht mit Tooling. Sie stellen die Frage „Was müsste wahr sein, damit Option A die beste ist?“; sie legen Annahmen offen, prüfen Daten auf Herkunft und Alter und nennen – ausdrücklich – die Punkte, an denen sie der eigenen Analyse misstrauen. Sie schreiben Entscheidungsvorlagen, die adressatengerecht sind, nicht blendend; lieber zwei Seiten mit klaren Trade‑offs als zehn Slides mit hübschen Piktogrammen. Amazon hat dieses Prinzip institutionalisiert: keine PowerPoint‑Folien, sondern sechsseitige Narrative, die in Meetings zunächst still gelesen werden. Schrift zwingt zur Klarheit – und Klarheit ist der Rohstoff guten Urteils.
Operativ gedacht: das Profil
Wer sind diese High Potentials also – operativ gedacht? Es sind Menschen, die Komplexität strukturieren, statt sie zu dekorieren. Die Transfer können – also Erkenntnisse von A nach B tragen, ohne sie zu verbiegen. Die in Modellen reden (Kausalität, Sensitivitäten, Schwellen), statt in Floskeln. Die Datenkritik beherrschen – Quellen, Zeitstempel, Unsicherheit. Die klar schreiben und sprechen – entschieden, adressatengerecht, mit Optionsverantwortung. Die Integrität zeigen, also rote Linien benennen und im Zweifel auf kurzfristige Vorteile verzichten. Und die lernen – sichtbar, in Schleifen; nicht nur wissen, sondern Annahmen testen, verwerfen, erneuern.
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Diagnostik, die Denken sichtbar macht
Unstrukturierte Gespräche und Brainteaser liefern wenig. Wer ernsthaft selektieren will, beobachtet Denken in Echtzeit: ein Live‑Reasoning zu einem echten Problem, eine 2‑seitige Entscheidungsvorlage mit Empfehlung, Annahmen und Risiken; ein Work‑Sample aus dem echten Stack. Und man misst – konsequent. Die FRC‑Debatte in der Prüfung ist ein Lehrstück für alle Branchen: Wo KI arbeitet, muss Qualität definiert, dokumentiert und kontrolliert werden. Sonst produziert man Geschwindigkeit ohne Gewähr.
Was Unternehmen heute tun sollten
Erstens: die Schriftkultur stärken. Jede relevante Entscheidung beginnt mit einem kurzen Memo: Problem, Optionen, Kriterien, Empfehlung, Annahmen, Risiken. Das klingt bürokratisch, ist aber produktiv; es zwingt zur Präzision und macht implizites Wissen prüfbar. Zweitens: Ausbildung umbauen. Wenn Doing weniger lehrt, muss man Lernen konstruieren: Shadowing mit Fokus auf Entscheidungswege; Simulationen mit echten Ziel‑KPI; Post‑Mortems, die Annahmen benennen statt Schuldige. Drittens: KI‑Governance operationalisieren – mit Metriken, die Wirkung messen (Fehlerraten, Nacharbeit, Tiefe der Prüfpfade). Viertens: Kultur in Code übersetzen – Agenten brauchen Leitplanken, sonst liefern sie korrekte, aber nicht passende Antworten.
ThinkBeyondAi | LinkedIn
ThinkBeyondAi | 3 followers on LinkedIn. thinkbeyondai: Midjourney-Mentalität – kritisch auf AI blicken, Berufe im Wandel verstehen, Zukunft denken. | thinkbeyondai ist eine Plattform für Reflexion, Analyse und Debatte im Zeitalter von Künstlicher Intelligenz.
Wir beleuchten, wie AI Berufe, Karrieren und ganze Branchen verändert – von der Anwaltskanzlei über die Unternehmensberatung bis hin zu M&A und Corporate Finance. Kern unseres Ansatzes ist die Midjourney-Mentalität: eine kritische Haltung gegenüber oberflächlicher AI-Nutzung.
Das Portfolio der Talente
Und die Talente selbst? Wer heute „High Potential“ sein will, braucht ein anderes Portfolio. Nicht eine Liste von Logos, sondern Belege für Urteil: ein sauber geschriebenes Decision Memo; ein Modell‑One‑Pager zu einem schwierigen Thema; ein Transfer‑Beispiel („Was von Pricing in SaaS lernt eine Spendenkampagne?“); eine kurze Post‑Mortem‑Notiz, in der man eine falsche Annahme öffentlich korrigiert. Das ist die Währung, die in Gesprächen überzeugt – weil sie sichtbar macht, wie jemand denkt.
Ein Begriff auf Probe
Man darf sich nichts vormachen: Der Begriff „High Potential“ ist aufgeladen – nicht selten ein Etikett für frühe Chancen in engen Systemen. Im KI‑Zeitalter erhält er nur dann Substanz, wenn wir ihn beobachtbar machen. Das bedeutet auch, Widersprüche auszuhalten. Ja, KI liefert Beschleunigung. Ja, sie nivelliert Unterschiede im Doing – zunächst zugunsten der Jüngeren. Und ja, genau deshalb wird Urteil zum Engpass. Wer das akzeptiert, rückt Schreiben, Messen und Modelle ins Zentrum – vor Tools, nicht gegen sie.
Handwerk & Haltung
Der Rest ist Handwerk – und Haltung. Handwerk: die Disziplin, vor einer Entscheidung eine Seite Prosa zu liefern, statt zehn Seiten Slides. Haltung: die Bereitschaft, Annahmen zu dokumentieren und zur Not zu revidieren. Beides lässt sich lernen. Und beides macht den Unterschied zwischen Tempo und Wirkung.
In Serie gedacht
Dieser Essay steht bewusst in einer Serie, die mit „AI ersetzt das Doing – aber wie lernen junge Berater noch das Denken?“ begonnen hat. Dort haben wir die Ausgangslage sortiert; hier die Konsequenz für Talent beschrieben. Im nächsten Schritt geht es um die Governance: Wer entscheidet morgen über Talent, wenn keiner genau weiß, welche Zukunft zählt?